Angsterkrankungen

1. Was verstehen wir unter Angst?

Jeder Mensch kennt Ängste, sie sind ein natürlicher Bestandteil unserer Empfindungen und dienen dem Schutz vor potentiellen Gefahren im Alltag. Angst ist ein biologisch festgelegtes Alarmsignal und sichert das Überleben der Menschen.

Das Wort Angst ist ursprünglich aus dem indogermanischen Wort „anghos“ oder dem lateinischen Zeitwort „angere“ abgeleitet, das einen Zustand beschreibt, in dem man Beklemmungen in der Brust verspürt, es einen die Kehle zuschnürt und Atemnot auftritt.

Angst ist also ein notwendiger, wenngleich meist als unangenehm erlebter, Bestandteil unseres Lebens. Angst ist aber auch eine Kraft, die uns zur Bewältigung von realen Bedrohungen antreibt; im mittleren Ausmaß auftretend steigert sie unsere Leistungsfähigkeit und Aufmerksamkeit und führt somit zur Reifung der Persönlichkeit.

Es gibt bestimmte Umweltreize, auf die wir von Natur aus stärker mit Angst reagieren, z. B. Schlangen, Höhe, Dunkelheit, Spinnen usw. Ängste sind nicht nur biologisch bestimmt, sondern auch sozial vermittelt und durch kulturelle Einflüsse geformt.

2. Wann gelten meine Ängste als krankhaft?

Die Ausprägung der Angst kann von bloßer Besorgtheit bis zum Auftreten von körperlichen Symptomen, wie Atemnot, Schweißausbrüchen, Herzklopfen, Muskelzittern, weichen Knien usw. reichen. Bei krankhaften Ängsten steht die Ausprägung der Angst in keinem realistischen Verhältnis zum Ausmaß der erlebten Bedrohung.

Die Unterdrückung der Ängste durch Vermeidung oder Flucht verstärkt oder verlängert die Angstreaktion, da der Betroffene in diesen Fällen den richtigen Umgang mit der Angst nicht lernen kann. Krankhafte Ängste führen zu einer deutlichen Einschränkung des individuellen Wirkungsgrades des Individuums durch anhaltende körperliche Symptomatik, Vermeidungsverhalten bis hin zum völligen sozialen Rückzug und hohem Leidensdruck.

Krankhaft sind Ängste also dann, wenn sie ohne reale Bedrohung auftreten, unangemessen, zu stark, zu häufig und zu lange andauern sowie mit ausgeprägter körperlicher Symptomatik verbunden sind und das Leben des Einzelnen deutlich einschränken.

Die genaue Einordnung und Beurteilung der Angstsymptomatik sollte fachärztlich getroffen werden.

3. Wie häufig ist krankhafte Angst?

Angststörungen zählen mit einer Lebenszeitprävalenz von bis zu 25 % zu den häufigsten psychischen Störungen bzw. Erkrankungen. Das bedeutet, dass jeder vierte Bundesbürger im Verlauf seines Lebens eine Angst erlebt, die als krankhaft eingeordnet werden kann.

Trotz der hohen Prävalenz wird die Diagnose einer Angststörung durchschnittlich erst sieben Jahre nach Beginn der Erkrankung gestellt. Dies bedingt nicht nur hohe sozioökonomische Kosten durch Beanspruchung des medizinischen Systems und Arbeitsausfall, sondern führt zur langfristigen Einschränkung des Handlungsbereichs der Betroffenen und zur Chronifizierung des Leidens. Dabei können Angsterkrankungen mit den derzeit zur Verfügung stehenden pharmakologischen und verhaltenstherapeutischen Mitteln in der Mehrheit der Fälle erfolgreich behandelt werden.

Angsterkrankungen treten meistens im jüngeren Erwachsenenalter auf. Trotz der Abnahme der Gesamtprävalenzen scheinen Angststörungen im höheren Alter die dritthäufigste psychiatrische Erkrankungsgruppe nach Demenzen und depressiven Störungen zu sein. In den meisten Fällen bestehen Angststörungen bereits seit dem Erwachsenenalter, wobei spezifische Phobien und generalisierte Angststörung bei älteren Patienten in ihrer Häufigkeit überwiegen.

Besondere Schwierigkeiten in dieser Altersgruppe bereitet die Diagnostik: Bei generalisierter Angststörung stellen sich nur etwa 13 % der Patienten mit Hauptsymptom Angst vor, am häufigsten wird von Schmerzen, gastrointestinalen Störungen, Schlafstörungen und Müdigkeit berichtet. Weiterhin besteht häufig Komorbidität mit organischen Erkrankungen, insbesondere Angina pectoris, chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen sowie Hypotonie. Im ärztlichen Bereich werden etwa 50 % der Angststörungen bei Älteren nicht erkannt, eine psychiatrische Ursache wird weniger häufig in Betracht gezogen und die Patienten ihrerseits gehen vor allem von körperlichen Ursachen der Angst aus.

4. Was wissen wir über die Entstehung von Angsterkrankungen?

Angsterkrankungen haben eine komplexe Genese, die eine Verzahnung von genetischen, neurobiologischen, lerntheoretischen und Umweltfaktoren beinhaltet. Die bisherigen Befunde legen eine 30-40%ige Beteiligung genetischer Faktoren im Entstehungsprozess der Angststörungen nahe. Der genetische Einfluss ist somit moderat und führt nicht automatisch zum Auftreten einer Angsterkrankung. Die Komplexität der Angsterkrankungen zeigt zusätzlich, dass es nicht nur ein „Angst-Gen“ gibt, sondern dass Veränderungen in unterschiedlichen Gengruppen zu einer erhöhten Prädisposition für eine Angsterkrankung führen.

Wissenschaftliche Untersuchungen dokumentieren, dass Umwelteinflüsse mittels epigenetischer Prozesse Einfluss auf die Genregulation und somit den Stoffwechsel nehmen und maßgeblich an der Entwicklung von Angsterkrankungen beteiligt sind.

Zu den neurobiologischen Erklärungsmodellen zählen Störungen der Überträgerstoffe im Gehirn (Serotonin, Noradrenalin), wobei nicht klar ist, ob diese Funktionsabweichungen primär krankheitsauslösend sind oder sekundär durch Veränderungen in anderen Systemen entstehen. Beispielsweise gibt es Hinweise für eine abnorme Regulation des Stresshormonsystems bei Patienten mit Panikstörung mit einer überschießenden Aktivierung des Stresshormonsystems, ähnlich wie bei Patienten mit Depressionen.

Neuroanatomisch wird die Angstantwort in Strukturen des limbischen Systems, insbesondere der Amygdala und dem Hippocampus, generiert. Diese Hirnkerne gehören zu den älteren Anteilen des Gehirns und werden mit der Entstehung von Emotionen, Aufmerksamkeit und Gedächtnis in Verbindung gebracht. Pathologische Prozesse in diesen Hirnregionen können zu spontanen Panikattacken und prolongierten Angstzuständen führen.

Lerntheoretisch werden die Entwicklung von Vermeidungsverhalten und antizipatorischer Angst durch Konditionierungsprozesse erklärt. Dieses Modell wird vor allem durch die Erfolge der Verhaltenstherapie gestützt. Allerdings kann es die Angstsymptomatik nicht vollständig erklären, insbesondere das Auftreten von Angstsymptomen in der Initialphase der Erkrankung ist lerntheoretisch ungenügend erklärbar.

5. Welche Angststörungen gibt es?

Das derzeitige internationale Klassifikationssystem (ICD-10) unterscheidet grundsätzlich phobische Störungen und andere Angsterkrankungen. Zu den phobischen Störungen zählen Agoraphobie mit und ohne Panikstörung, soziale Phobie und einfache Phobien.

Unter einer Agoraphobie versteht man die Angst vor Situationen, aus denen keine schnelle Flucht möglich ist. Zu den typischen Situationen werden große Menschenmengen, Kaufhäuser, U- und S-Bahnen, Flugzeuge, volle Kino- und Konzertsäle gezählt. Die Agoraphobie ist meist mit Panikattacken gekoppelt, die jedoch im Gegensatz zu einer Panikstörung nur in agoraphobischen Situationen auftreten.

Die soziale Phobie beginnt in der Adoleszenz und hat in der Regel einen chronischen Verlauf mit negativen Folgen für die Sozialisierung des Individuums, den beruflichen Erfolg und die partnerschaftliche Bindung. Grundsätzlich wird von einer generalisierten und nicht-generalisierten sozialen Phobie gesprochen: Die erstere Form bezieht sich auf die meisten sozialen Situationen sowie öffentliche Auftritte, wohingegen bei nicht-generalisierter sozialer Phobie nur ein bis zwei bestimmte Situationen gefürchtet werden.

Um einfache Phobien handelt es sich dann, wenn nur klar erkennbare oder eng umschriebene Objekte oder Situationen pathologische Ängste auslösen, z. B. bei der Spinnenphobie.

Zu den anderen Angsterkrankungen gehören die Panikstörung, die generalisierte Angststörung und Angstsyndrome mit Depression. Unter einer Panikstörung versteht man ein gehäuftes Auftreten von Panikattacken mit abruptem Beginn und mindestens vier körperlichen oder psychischen Symptomen. Die Panikattacken müssen mindestens einmal pro Monat auftreten. Häufig entwickeln die Patienten im Verlauf der Erkrankung eine Agoraphobie.

Bei der generalisierten Angststörung besteht eine übersteigerte Besorgnis in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme. Diese Besorgnis und Anspannung muss mindestens sechs Monate andauern und mit körperlichen Symptomen einhergehen.

Des Weiteren gibt es Erkrankungen, bei denen sowohl Ängste als auch depressive Symptome zu gleichen Teilen vorhanden sind. Wenn keine der beiden diagnostischen Kategorien klinisch vorherrschend ist, wird die Störung in die Kategorie der gemischten Angst und Depression eingeordnet.

6. Wie sieht die Behandlung von Angststörungen aus?

Grundsätzlich wird derzeit ab einer mittelgradigen Ausprägung der jeweiligen Angststörung eine Kombination aus Medikamenten und einer Verhaltenstherapie empfohlen. Eine Ausnahme stellen die einfachen Phobien dar, die in erster Linie verhaltenstherapeutisch behandelt werden.

Medikamentöse Therapie

Angststörungen können mit derzeit verfügbaren Medikamenten gut behandelt werden. Die Gruppe der angstlösenden Substanzen besteht aus Beruhigungsmitteln, Antidepressiva und Antikonvulsiva. In der Initialphase der Aufdosierung von Antidepressiva kann es zu einer Verstärkung der Angstsymptomatik sowie einer Zunahme der inneren Unruhe kommen. In der Praxis haben sich daher niedrigere Anfangsdosierungen als bei antidepressiver Therapie, langsame Dosissteigerungen und eine bedarfsabhängige Gabe von Beruhigungsmitteln bewährt, die aufgrund ihres Abhängigkeitspotentials nur als Akutmedikation oder nur vorübergehend eingesetzt werden sollten.

20-40 % der Patienten sprechen nicht auf die Behandlung mit Medikamenten der ersten Wahl an. Dieses Nicht-Ansprechen ist definiert durch fehlende Symptomreduktion um mindestens 50 % in einer standardisierten Skala innerhalb von 6 Wochen bei ausreichender Medikamentendosierung. Eine Ausnahme stellt die Behandlung von Zwangsstörungen dar. Hier müssen die Medikamente höher dosiert werden und die Behandlungsdauer mindestens 8-12 Wochen betragen.

Häufige Gründe für ein Nicht-Ansprechen auf Standardbehandlung sind Unverträglichkeit der Medikamente sowie deren unregelmäßige Einnahme. Weitere Ursachen stellen lange Erkrankungsdauer, hoher Erkrankungsgrad, ausgeprägtes agoraphobisches Vermeidungsverhalten, häufiges Aufsuchen von Notambulanzen und zusätzliches Erkranken an Depressionen, anderen Angststörungen sowie Persönlichkeitsstörungen dar.

Nicht-medikamentöse Therapie

Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich als eine effektive Behandlungsmethode bei Patienten mit Angststörungen bewährt. Durch krankheitsaufklärende Maßnahmen sowie einen besseren Umgang mit der Angst soll dabei langfristig die Rückfallquote reduziert werden. Ein Expositionstraining (wie flooding und systematische Desensibilisierung) ist insbesondere bei phobischen Erkrankungen wirksam, z. B. bei Agoraphobie, Soziophobie und spezifischen Phobien. Gegen nicht situations- oder objektbezogene Ängste sind spezifische kognitive Ansätze entwickelt worden. Andere psychotherapeutische Verfahren können derzeit aufgrund nicht untersuchter bzw. dargelegter Wirksamkeit nicht empfohlen werden.

Einige Untersuchungen haben gezeigt, dass regelmäßige ausdauernde Sportaktivität das Angstniveau reduzieren kann. Die Wirksamkeit scheint der pharmakologischen Behandlung unterlegen zu sein, jedoch führt die Steigerung der allgemeinen körperlichen Fitness der Patienten zum besseren Allgemeinbefinden sowie zur Reduktion von Muskelanspannung.

Aus verhaltenstherapeutischer Sicht werden die Betroffenen mit Symptomen konfrontiert, die beispielsweise auch während der Panikattacken auftreten (Tachykardie, Hyperventilation, Hyperhidrosis) und die in diesem Fall eine physiologische Reaktion darstellen. Dadurch können falsche Verknüpfungen zwischen Situationen und körperlicher Symptomatik und die Fehlinterpretationen der Angst verhaltenstherapeutisch bearbeitet werden.

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