Gene lernen aus Stress

Forschungsbericht (importiert) 2009 - Max Planck Institut für Psychiatrie

Autoren
Dietmar Spengler
Abteilungen
Molekulare Neuroendokrinologie (Dr. Dietmar Spengler)
MPI für Psychiatrie, München
Zusammenfassung
Frühkindlicher Stress hinterlässt tiefe Spuren auf unseren Genen und programmiert zeitlebens das Risiko für Depressionen. Dies geschieht durch die Anlagerung einfacher chemischer Markierungen, sogenannter Methylgruppen, an unsere Erbsubstanz, die wie ein Schalter die Aktivität von Genen nachhaltig verändern. Der Nachweis gelang Wissenschaftlern am MPI für Psychiatrie in München mithilfe von Mäusen, die nach der Geburt kurze Zeit von der Mutter getrennt wurden und als Folge lebenslang erhöhte Stresshormone und verminderte Stresstoleranz zeigten. Beides sind bei entsprechender Veranlagung Wegbereiter für schwere Depressionen.

Abschied vom biologischen Karma

Warum manche Menschen nach einem traumatischen Erlebnis eine Depression entwickeln, während andere Menschen mit gleicher Erfahrung nicht erkranken, führten wir bisher auf die Unterschiede in ihrem genetischen Erbe zurück. Das Genom galt als unveränderlicher Bauplan des Menschen, der zu Beginn unseres Lebens festgelegt wird. Der Mensch als eine Marionette seiner Gene – von dieser fatalistischen Choreographie muss sich die Wissenschaft verabschieden. In Wirklichkeit sind unsere Erbanlagen in ständigem Wandel begriffen. Nicht nur die Gene prägen den Menschen, der Mensch prägt auch die Wirkung seiner Gene.

Das epigenetische Gedächtnis

Wie Gene und Umwelteinflüsse in Wechselwirkung treten, ist gerade im Bereich der Psychiatrie von größtem Interesse. Sigmund Freud beschrieb bereits vor mehr als 100 Jahren den Einfluss von traumatischen Erlebnissen auf die Entwicklung von Angsterkrankungen. Die Epidemiologie konnte dies eindrucksvoll bestätigen. Die molekularen Abläufe, durch die Ereignisse tiefe Spuren in unseren Gehirnzellen und deren Genen hinterlassen, sind aber eines der großen ungelösten Rätsel der modernen Medizin geblieben.

Das Genom ist die Gesamtheit aller Gene, die im Erbgut enthalten sind. Dies wiederum besteht aus einer schier endlos erscheinenden Abfolge von nur vier verschiedenen chemischen Grundbausteinen. Sie sind die Buchstaben des genetischen Textes und bilden einen Kode, den die Zellen wie Baupläne lesen und in die zahlreichen Eiweißmoleküle übersetzen, aus denen sich ein Lebewesen zusammensetzt.

Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms zur Jahrtausendwende richteten sich die Hoffnungen der Forscher vor allem auf die Identifizierung von Genvarianten, die mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko einhergehen. Sehr schnell wurde aber deutlich, dass genetische und Umwelteinflüsse voneinander abhängig sind und dass erworbene Informationen die Gebrauchsanweisung zum „Buch des Lebens“ liefern. Hierzu werden Methylgruppen – ein Kohlenstoffatom, drei Wassserstoffatome – wie Signalflaggen auf der doppelsträngigen Erbsubstanz angebracht und legen somit fest, wie häufig ein Gen abgelesen wird. Die Entschlüsselung dieser Informationen ist Gegenstand der Epigenetik, einer neuen Forschungsrichtung, die zum Verständnis der Wechselwirkung von Genen und Umwelt zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Sämtliche Zellen eines Lebewesens besitzen die gleiche genetische Blaupause. Aber sie können als Folge unterschiedlicher Entwicklungs- und Umwelteinflüsse unterschiedliche Epigenome ausbilden. Dadurch gewinnen die Zellen verschiedene Eigenschaften, d.h. eine eigene Identität. Sie verfügen gleichsam über ein Gedächtnis. Das Epigenom ist daher die Sprache, in der das Genom mit der Umwelt kommuniziert und Spuren auf unseren Genen hinterlässt.

Wenn Körperzellen durch ihr Epigenom mit der Umwelt vernetzt sind, sollte dies nicht auch auf unser Gehirn zutreffen? Und könnte dann dieser zweite, epigenetische Kode dergestalt frühe Erfahrungen in unseren Nervenzellen verankern?

In der Stressfalle

Wie die epigenetische Gedächtnisbildung eines frühen Stresserlebnisses im Mausgehirn aussieht, konnten wir in der Arbeitsgruppe Neuroendokrinologie im Detail aufklären. Werden neugeborene Mäuse von der Mutter für kurze Zeit getrennt, dann können sich diese Tiere ihr Leben lang nur schlecht an Stresssituationen anpassen. Ihr Gedächtnis, ihr Antrieb und ihre Emotion sind gestört. Auch die Stresshormone sind erhöht, weil im Gehirn der traumatisierten Mäuse das Eiweißmolekül Vasopressin (AVP) überproduziert wird (Abb. 1). Vasopressin stellt wichtige Weichen für die Funktion von Stresshormonen, Gedächtnis, Emotion und Sozialverhalten. Diese Veränderungen des Vasopressingens finden sich nur in den Nervenzellen, die den Ausgangspunkt der Stressachse markieren und im Zwischenhirn vorkommen. Als übergeordnetes Steuerzentrum kontrolliert dieses Zellareal lebenswichtige Stressreaktionen und das vegetative Nervensystem. Über Vasopressin wird zunächst die Hirnanhangdrüse aktiviert, die ihrerseits die Nebennierenrinde antreibt, Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin vermehrt in die Blutbahn abzugeben.

Wir gingen daher der Frage nach, was diese Überproduktion von Vasopressin auslöst. DNA-Analysen des Vasopressingens führten zur Identifizierung eines die Genaktivität regulierenden Abschnittes, dessen Methylierung die Aktivität von Vasopressin hemmt. Dieser epigenetische Aus-Schalter fehlt in den gestressten Tieren und führt zu einer lebenslangen Überproduktion von AVP (Abb. 2). Waren die Mäuse ein Jahr alt – also aus Nagersicht ein hohes Alter – ließen neue Erfahrungen den Effekt des frühen Traumas auf das Vasopressingen noch immer nicht verblassen. Im Gegenteil; es trat an einer entscheidenden Stelle des Erbguts umso deutlicher hervor. Das frühe Trauma hatte sich somit tief in das Gehirn der Versuchstiere „eingebrannt“. Sie sind in der Stressfalle gefangen.

Durch die Behandlung mit einem gezielt wirkenden Pharmakon, welches die Andockstelle des übermäßig produzierten Botenstoffes AVP blockiert, gelang es den Wissenschaftlern, die Stresssymptome der Tiere deutlich zu mildern. Durch diese therapeutische Maßnahme werden aber die epigenetischen Fehlkodierungen nicht ausradiert. Sie stellen weiterhin ein lebenslanges Risiko dar, unter Stressbelastung zu erkranken. Die Analogie zu Stress-induzierten Leiden des Menschen – von Herzkreislauferkrankungen bis zur Depression – liegt auf der Hand.

Weg ohne Wiederkehr

In unseren weiteren Experimenten entdeckten wir, über welchen Signalweg die frühen Lebenserfahrungen in das Vasopressingen eingraviert werden. Hierbei konnten wir zeigen, dass dem Eiweißmolekül MeCP2 (Methylgruppen-bindendes Protein 2) eine zentrale Rolle zukommt. Dieses Molekül bindet spezifisch an die Methylgruppen der Erbsubstanz und dient als Andockstelle für eine Gruppe von Enzymen, welche zur Methylierung der DNA führen und somit die Aktivität der betroffenen Gene zum Verstummen bringen (Abb. 3). In einem ersten Schritt kommt es zu einer durch das Trauma ausgelösten verminderten Bindung von MeCP2. Da die Methylierung der DNA zunächst unberührt bleibt, ist diese Form der epigenetischen Gedächnisbildung nicht stabil (Abb. 4). Erst in Laufe der folgenden Wochen kommt es durch den Wegfall der methylierenden Enzyme zur schleichenden Erosion der Signalflaggen auf der DNA. Hiermit wird die anfänglich umkehrbare verminderte Bindung von MeCP2 festgeschrieben. Der Weg zu einer dauerhaften Überproduktion von Vasopression ist geebnet – ein Weg, auf dem es kein Zurück gibt. Die Mäuse bleiben zeitlebens in dieser epigenetischen Gedächtnisfalle gefangen.

Vorbeugung ist die beste Therapie

Um die Entwicklung psychiatrischer Erkrankungen zu verstehen, werden zukünftig neben den genetischen Analysen die epigenetischen Kodierungen identifiziert werden müssen. Erst sie werden uns Antworten liefern und die Komplexität psychiatrischer Erkrankungen erklären. Die Studie der Wissenschaftler am MPI für Psychiatrie in München dokumentiert, wie sich Umwelteinflüsse über epigenetische Mechanismen auf die molekulare Ebene unseres Genoms niederschlagen. Früh erlittener hoher Stress kann die Entwicklung pathophysiologischer Prozesse einleiten, die sich später in Angsterkrankungen und Depression manifestieren.

Das Verständnis dieser epigenetischen Kodierung wird zum Schlüssel für neue Behandlungsstrategien. Der schrittweise Ablauf der durch das Trauma verursachten Fehlkodierungen gibt berechtigten Anlass zu der Hoffnung, dass rechtzeitiges Eingreifen diese Kette von fatalen Ereignissen unterbrechen und somit dem Festschreiben auf der Ebene der Erbsubstanz vorbeugen kann. Er liefert zugleich die Handlungsanweisung für den Beginn einer psychotherapeutischen und medikamentösen Therapie im unmittelbaren Anschluss an ein erlittenes schweres Trauma. Die Medizin der Zukunft ist kein rückwärts gewandtes Reparieren von Spätschäden, sondern eine proaktive Medizin, die durch frühzeitige Intervention auf die Verhinderung von Schäden zielt. Nur dann besteht Hoffnung, dass sich traumatische Erlebnisse nicht unauslöschlich in die epigenetische Blaupause der Gehirnzellen einbrennen und zu einem lebenslang erhöhten Risiko für Angsterkrankungen und Depression führen. Die zunehmende Aufklärung der epigenetischen Genregulation eröffnet der Medizin neue Möglichkeiten der Diagnose und Therapie und den Ausblick auf neue pharmakologische Leitsubstanzen, die in den Prozess der epigenetischen Fehlkodierung frühzeitig und gezielt eingreifen.

Originalveröffentlichungen

1.
C. Murgatroyd, A. V. Patchev, Y. Wu, V. Micale, Y. Bockmühl, D. Fischer, F. Holsboer, C. T. Wotjak, O. F. X. Almeida, D. Spengler:
Dynamic DNA methylation programs persistent adverse effects of early-life stress.
Nature Neuroscience 12 (12), 1559 – 1566 (2009).
2.
C. D. Allis, T. Jenuwein, D. Reinberg:
EPIGENETICS.
Cold Spring Harbor Laboratory Press, Cold Spring Harbor, New York (2007).
3.
P. Spork:
DER ZWEITE CODE.
Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 2. Auflage (2009).
Zur Redakteursansicht