Wir trauern um unseren Emeritus Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Zieglgänsberger
Der langjährige Leiter unserer Arbeitsgruppe Klinische Neuropharmakologie ist am 17. Oktober 2024 verstorben. Wir sind dankbar für seine jahrzehntelange Arbeit an unserem Institut. Der vielfach ausgezeichnete, international renommierte Wissenschaftler und Arzt prägt durch seinen translationalen Ansatz unsere Arbeit bis heute. Wir verlieren einen wissenschaftlichen Lehrer und Kollegen, der bis zuletzt ein gefragter Ansprechpartner für uns war. Wir trauern auch um den charismatischen Menschen, der sich das Menschliche immer bewahrte. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken gewähren.
Arzt und Wissenschaftler
Das besondere Interesse des Münchner Wissenschaftlers und Arztes galt von Anfang an der Schmerz- und Suchtforschung. Zieglgänsberger ist einer der Begründer der modernen Schmerzforschung in Deutschland mit internationaler Reputation. Seine wegweisenden Erkenntnisse erlangte er sowohl in der Grundlagenforschung als auch was die klinische Anwendung in der Schmerztherapie angeht – eine seltene Kombination.
Schon in seiner Dissertation beschäftigte Zieglgänsberger sich 1967 am Max-Planck-Institut für Psychiatrie (MPI) in München damit, wie Nervenzellen im Gehirn von Wirbeltieren miteinander kommunizieren. Danach widmete er sich zunehmend der neurobiologischen Grundlagenforschung. 1976 folgten die Habilitationen für die Fächer Physiologie und Pharmakologie. 1976 wurde Zieglgänsberger Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie, 1980 auch für Klinische Pharmakologie. 1983 ernannte die Ludwig-Maximilians-Universität München ihn zum außerplanmäßigen Professor. Von 1984 bis zu seiner Emeritierung 2005 leitete Zieglgänsberger die Arbeitsgruppe Klinische Neuropharmakologie am MPI.
Während dieser Jahre arbeitete der Wissenschaftler und Arzt in verschiedenen Labors in ganz Europa sowie in den USA. Seine Forschungsarbeiten führten ihn zum Beispiel zu einem längeren Aufenthalt nach La Jolla in Kalifornien ans renommierte The Salk Institute.
Zu seinen Hauptarbeitsgebieten zählten molekularbiologische, elektrophysiologische und pharmakologische Aspekte neurohumoraler Übertragungsmechanismen im Zentralnervensystem. Besondere Aufmerksamkeit widmete Zieglgänsberger neurobiologischen Grundlagen der Schmerzwahrnehmung sowie der Neuropharmakologie der Schmerztherapie. Für die Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzzustände sind funktionelle und strukturelle Veränderungen in Nervenzellen verantwortlich. Die Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung über die Mechanismen, die zur Entwicklung neuroplastischer Erregbarkeitsveränderungen führen, haben insbesondere in der medikamentösen Schmerztherapie zu einem Paradigmenwechsel geführt.
Entdecker des Schmerzgedächtnisses
Chronischer Schmerz ist kein Symptom einer Krankheit, sondern eine komplexe Erkrankung. An dieser Erkenntnis war Zieglgänsberger maßgeblich beteiligt. Die angstbesetzte Erinnerung an den Schmerz bleibt auch dann bestehen, wenn keine schmerzhaften Signale mehr auf das Nervensystem einwirken. Bei vielen PatientInnen wird die Angst vor den wiederkehrenden oder den weiter bestehenden Schmerzen übermächtig. Die Lernfähigkeit und enorme Plastizität des menschlichen Gehirns macht es möglich, neue Erfahrungen im Gehirn zu verankern, wodurch alte Erinnerungen allmählich verblassen, wenn sie nicht ständig wieder aufgefrischt werden ("Re-Learning"). Durch eine Therapie, die den Schmerz kontinuierlich unter Kontrolle hält, kann man chronischen Schmerzpatienten die Angst vor der nächsten Attacke nehmen; sie entwickeln Vertrauen in schmerztherapeutische Maßnahmen und erkennen, dass sie diesen Prozess auch durch eigenes Verhalten steuern können.
Mit seinen weltweit erstmals durchgeführten Untersuchungen über Glutamat hat Zieglgänsberger Grundlagen für das heutige Verständnis von neuronaler Plastizität und Chronifizierungsmechanismen gelegt. Schmerzen lösen dynamische Veränderungen am Zentralnervensystem aus, und die Dynamisierung des Schmerzmodells in seinen molekularbiologischen Details waren Verdienste des Münchner Grundlagenforschers. Seine Forschungsergebnisse wurden zur Basis von Behandlungsansätzen zur Prophylaxe und Therapie chronifizierter Schmerzen.
Als Begründer der modernen Schmerzforschung in Deutschland konnte der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftler auf über 300 wissenschaftliche Publikationen verweisen. Zieglgänsberger war Mitglied in zahlreichen internationalen Fachgesellschaften und Herausgeber-Gremien und bis zuletzt ein gefragter Gutachter bei Fachzeitschriften und Institutionen der Wissenschaftsförderung. Er wurde vielfach mit Preisen geehrt. 2018 erhielt er das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Sein Engagement zeigte sich auch in Beratertätigkeiten in berufsständischen und wissenschaftspolitischen Gremien.
Ehrenamtlich aktiv
Seit seiner Emeritierung war Zieglgänsberger kaum weniger aktiv. Neben seinen Gutachter- und Beratertätigkeiten betreute er lange Zeit noch DoktorandInnen und hielt Vorträge. Vor allem für sein ehrenamtliches Engagement hatte er mehr Zeit: der leidenschaftliche Arzt beriet PatientInnen kostenfrei und vermittelte sie an Spezialisten. 18 Jahre lang engagierte Zieglgänsberger sich beim ärztlichen Notdienst im Münchner Norden. Er suchte immer wieder den Kontakt zu SchülerInnen, um sie für die wissenschaftliche Arbeit zu begeistern. In zahlreichen Interviews für Print, TV, Radio und Online bewies Zieglgänsberger immer wieder seine Fähigkeit, eine allgemein verständliche Sprache zu finden. Auch komplizierte Sachverhalte konnte er so vermitteln, dass sie jeder verstand.