Pupillometrie und das Problem der Quantifizierung von Depressionen
Forschungsbericht (importiert) 2024 - Max Planck Institut für Psychiatrie
Einleitung
Depressionen betreffen etwa fünf Prozent der Allgemeinbevölkerung und führen zu erheblichen Beeinträchtigungen für die Betroffenen und ihre Familien. Leider gibt es derzeit keine klinischen Labortests oder so genannte Biomarker, die bei der Diagnose dieser Erkrankung helfen. In den größeren psychiatrischen Kliniken können neurologische oder endokrinologische Erkrankungen z. B. durch MRT-Scans und Bluttests ausgeschlossen werden. Doch dies hilft nicht dabei, herauszufinden, was die eigentliche Ursache ist - sondern nur, was keine ist. Patienten, die mit depressiven Symptomen zu uns kommen, erhalten nach einem klinischen Gespräch häufig die Diagnose "Major Depressive Disorder", ohne eine objektive Prognose, auf welche Behandlung diese Patienten am besten ansprechen würden.

Die Diagnose einer Depression beruht derzeit auf neun sehr unterschiedlichen Symptomen, von denen fünf oder mehr vorhanden sein müssen. Von den Hauptsymptomen gedrückte Stimmung und Anhedonie (Unfähigkeit, Freude zu empfinden) müssen eines oder beide vorhanden sein. Die anderen sieben Symptome sind breit gefächert: übermäßige Schuldgefühle und Selbstmordgedanken, Veränderungen von Appetit und Schlaf sowie ein niedriges Energieniveau oder eine allgemeine Verlangsamung. Drei der Symptome sind gegensätzlich: Patienten können zu viel oder zu wenig schlafen (Schlaflosigkeit), mehr oder weniger Appetit haben und eine psychomotorische Verlangsamung oder Erregung zeigen. Daraus ergeben sich rechnerisch 945 verschiedene Arten, depressiv zu sein (siehe Abb.1).
Problematisch ist, dass unser Gehirn zu komplex ist und unsere bildgebenden Methoden zu grob sind, um Informationen über die Aktivität in der Tiefe des Gehirns zu erhalten. Entscheidend wären Erkenntnisse z. B. aus dem limbischen System, wie beispielsweise der Amygdala (auch als „Panikknopf“ des Gehirns bekannt, obwohl sie für mehr zuständig ist) und dem Hippocampus (manchmal als „Bibliothekar“ des Gehirns bezeichnet), oder dem Belohnungszentrum im ventralen Striatum.
Pupillometrie als „Fenster“ in tiefe Hirnbereiche
Eine Ausnahme bildet der sogenannte Locus Coeruleus (LC) oder blue spot, eine wichtige Region des Hirnstamms. Der Name blue spot leitet sich davon ab, dass diese Nervenzellen aufgrund von Neuromelanin blauer als andere sind. Glücklicherweise können wir die Aktivität des LCs und einiger anderer wichtiger Hirnstammzentren nicht-invasiv beobachten, da sie stark mit der Pupillen-Größe verknüpft ist.
Drei Projekte am MPI für Psychiatrie untersuchen dieses „Fenster“ in den Hirnstamm. Eines davon untersucht die sogenannte Salienz, d.h. der LC fängt an zu feuern, wenn ein interessanter Reiz registriert wird. Der LC fährt die Erregung des Körpers hoch, um eine Belohnung einzuholen oder um Schmerzen zu vermeiden. Wenn Patient*innen im Eye-Tracking-Labor (Abb. 2) eine geringe Belohnung erhalten, kann man sehen, wie sich die Pupille während der Erwartung dieser Belohnung erweitert. Im Projekt von PhD-Student Andy Brendler haben wir beobachtet - und anhand einer unabhängigen, medikamentenfreien Patienten-Stichprobe bestätigt - dass sich die Pupille bei Belohnungen umso weniger weitet, je depressiver die Personen sind [1]. Diese Verringerung der Pupillenerweiterung scheint spezifisch mit dem Symptom der Anhedonie zusammenzuhängen – dem Unvermögen, Freude zu empfinden. Das bedeutet, dass dieses Symptom in Zukunft objektiv erfasst werden könnte, um kausale Informationen über die Funktion einer relevanten Hirnstammregion, des LC, zu erhalten. Möglicherweise gibt es eine Form der Depression, die durch ein zu niedriges Erregungs-/Energieniveau gekennzeichnet ist und ggf. besser auf bestimmte Medikamente ansprechen könnte.
Ein zweites Projekt, das PhD-Projekt von Julia Fietz, befasst sich mit kognitiven Beschwerden, die häufig bei Depressionen auftreten. Im Alter können sich diese mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen (mild cognitive impairment, MCI) überschneiden, die Teil neurodegenerativer Erkrankungen wie der Alzheimer-Krankheit sein können. Wenn Menschen mehrere Dinge in ihrem Arbeitsgedächtnis behalten müssen (wie fünf, sechs oder sieben Ziffern, die wiederholt werden müssen), erweitert sich normalerweise die Pupille mit zunehmender Belastung des Arbeitsgedächtnisses. Dies geschieht jedoch nicht bei Personen, die kognitiven Einschränkungen unterliegen und bei bestimmten neuropsychologischen Tests langsamer abschneiden [2].
Apps für die klinische Anwendung
Um diese Erkenntnisse in den klinischen Alltag zu übertragen, haben wir im Rahmen des GoBio-Programms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zwei digitale Anwendungen (Apps) für mobile Pupillometrie-Endgeräte entwickelt, die von einem Team aus Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in Kliniken getestet werden. Eine App für Smartphones erfasst mit einer Nah-Infrarot-Kamera, wie man sie für Gesichtserkennung verwendet, die Pupille; die zweite erlaubt Pupillometrie mittels kommerzieller Virtual Reality-Headsets. Da das MPI für Psychiatrie als einziges MPI eine eigene Klinik betreibt, können wir diese Anwendungen zur verbesserten Diagnostik und Früherkennung direkt in unserer Forschungsklinik testen.

In der Psychiatrie könnte ein solcher Biomarker für Depressionen auch wissenschaftlich entscheidend sein. Zum Beispiel scheinen bestimmte Antidepressiva, sogenannte Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) trotz ihres z.T. schlechten Rufs etwa so wirksam zu sein wie viele Medikamente in anderen medizinischen Bereichen: Sie verbessern die Kernsymptome, wie etwa die depressive Stimmung und Anhedonie, aber sie haben Nebenwirkungen, z. B. können sie beispielsweise den Schlaf verschlechtern.
Solche Wirkungen werden bei Depressionen oft mit einem Ratingskala wie der Hamilton Rating Scale dokumentiert, bei der sich der Gesamtscore aus der Summe mehrerer unterschiedlicher Symptome ergibt (depressive Kernsymptome, Schlafprobleme, Appetit, usw.). Wenn ein SSRI wie beabsichtigt die depressive Stimmung verbessert, aber als Nebenwirkung Schlafstörungen verursacht, kann es hier sein, dass die Gesamtscore sich kaum ändert. [3, 4]. Durch Biomarker für Anhedonie und Schlaflosigkeit wären beide Parameter objektiv messbar und das Wirkungs- bzw. Nebenwirkungsprofil für Patienten präzise einschätzbar. Damit ist die anwendungsorientierte Entwicklung solcher Physiomarker in der Psychiatrie sowohl klinisch als auch wissenschaftlich höchst relevant. Hier gilt, wie Max Planck sagte, dass „dem Anwenden das Erkennen vorausgeht“.