Autistische Persönlichkeitszüge verhindern optimale Nutzung von sozialen Hinweisen

Wissenschaftler erklären mithilfe von mathematischer Modellierung Unterschiede im Sozialverhalten bei Autismus-Spektrum-Störungen

18. Dezember 2015

Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine relativ häufig psychiatrische Erkrankung, bei der die soziale Interaktion und Kommunikation beeinträchtigt sind. Diese Beeinträchtigungen hindern viele Betroffene daran, trotz normaler Intelligenz ein zufriedenes Leben mit sozialen Kontakten und beruflicher Tätigkeit zu führen. Zusammen mit ihren Kollegen in Köln und Zürich haben Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München jetzt mithilfe mathematischer Modelle die Unterschiede im Sozialverhalten aufgeklärt, die mit autistischen Persönlichkeitszügen im Zusammenhang stehen. Sie zeigen, dass autistische Züge nicht wie bisher angenommen die Betroffenen daran hindern, soziale Hinweise wahrzunehmen. Vielmehr beeinflussen sie, wie soziale Information zur Entscheidungsfindung beiträgt.

Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine weit verbreitete psychiatrische Erkrankung, die sich bereits in früher Kindheit durch schwerwiegende Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und Kommunikation bemerkbar macht. Ungefähr die Hälfte der von Autismus betroffenen Patienten weist keinerlei intellektuelle Beeinträchtigung auf. Nichtsdestotrotz leiden sämtliche Betroffenen an ernsthaften Einschränkungen im Berufs- und Privatleben. Dies ist auch der Grund dafür, warum so viele an Autismus erkrankte Personen parallel eine Depression entwickeln. Man vermutet, dass Menschen mit Autismus soziale Signale wie z.B. Mimik und Gestik nicht hinreichend bemerken und deuten und infolgedessen nicht angemessen auf sie reagieren. Einer anderen Theorie zufolge sind Autisten unfähig, Empathie zu zeigen, was wiederum zu Schwierigkeiten im Sozialverhalten führt.

Leonhard Schilbach, Oberarzt und Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Psychiatrie, erklärt: “Wir haben in dieser Studie gezeigt, dass die auf autistischen Charakterzügen beruhenden Unterschiede im Sozialverhalten sich nicht durch eine Unfähigkeit zur Verarbeitung sozialer Informationen erklären lassen, sondern eher durch die Art und Weise, wie diese in die Entscheidungsfindung einfließen.“ 

Man geht davon aus, dass Wahrnehmung und Entscheidungsfindung ein Zusammenspiel zwischen den in höheren Hirnbereichen erzeugten “Erwartungen” und Signalen aus niedrigeren sensorischen Hirnbereichen ist. Normalerweise interpretiert man das Verhalten seiner Mitmenschen vor dem Hintergrund solcher “Erwartungen”. Dies ermöglicht es dem Einzelnen, sich flexibel und sozial adäquat zu verhalten. Im Gegensatz dazu könnte dieses Zusammenspiel im Fall von Autismus aus der Balance geraten, wobei das Gewicht verstärkt auf die sensorischen Signale gelegt wird.

Bisherige Forschungsansätze haben gezeigt, dass Menschen nicht nur das offenkundige Verhalten ihrer Mitmenschen „lesen“, sondern auch die dahinterliegenden Absichten mit einbeziehen, wenn sie in einem sozialen Kontext Entscheidungen fällen. Solche dem Sozialverhalten beim Menschen zugrunde liegenden Variablen lassen sich anhand von mathematischen Modellen beschreiben. Projektleiter Leonhard Schilbach erklärt: “Mithilfe der Modellierung konnten wir untersuchen, ob die Unfähigkeit, die Absichten anderer zu durchschauen, die Ursache ist für die Unterschiede bei der sozialen Entscheidungsfindung zwischen Menschen mit stärker bzw. leichter ausgeprägten autistischen Eigenschaften.“ 

Schilbach und seine Kollegen fanden heraus, dass verstärkte autistische Eigenschaften nicht die Fähigkeit zur Verarbeitung sozialer Informationen per se beeinträchtigen, sondern vielmehr die Art und Weise, wie diese Informationen das Entscheidungsverhalten beeinflussen. Darüber hinaus stellten sie fest, dass Menschen mit deutlich ausgeprägten autistischen Eigenschaften in unvorhersehbaren Situationen soziale Informationen nicht optimal umsetzen können.

Die Wissenschaftler hoffen, dass ihre neuen Erkenntnisse zu einer verbesserten Behandlung von Patienten mit Autismus führen werden. Darüber hinaus könnte der in der Studie verwendete Ansatz der mathematischen Modellierung auch bei der Analyse von sozialen Schwierigkeiten bei anderen psychiatrischen Störungen eingesetzt werden.

LS, EF, MM, HR

Zur Redakteursansicht